
In der Krise ist sich jeder Nationalstaat der Nächste
Hintergrundinformationen zur These: „In der Krise ist sich jeder Nationalstaat der Nächste.“
Schon öfter traten in der Geschichte globale Krisen auf, welche vor Landesgrenzen keinen Halt machten. Dennoch ist die Corona-Pandemie auf gewisse Weise einzigartig: Alle Menschen, alle Staaten und Kulturkreise sind gleichermaßen vom Sars-Cov-2-Virus betroffen. Dies ist eine der Eigenschaften, die das Virus auch vom oft zum Vergleich herangezogenen Klimawandel abhebt. Während einige Länder diesen bereits in vollem Umfang zu spüren bekommen, merken andere nur leichte klimatische Veränderungen. Die Verteilung von Verantwortungen und Verpflichtungen ist daher vielmehr eine politische Frage, während Corona „neutraler“ und vergleichbarer erscheint: Niemand ist schuld, das Virus funktioniert überall gleich, die folgende Wirtschaftskrise wird keine irgendwo geplatzte Blase mit Kettenreaktion sein, sondern eine Folge der Shutdowns vor Ort.
Nationalstaat oder Weltgesellschaft: Zwei Ansätze zur Lösung der Krise
Wie auch in der globalen Wirtschaftskrise im Jahr 2009 lassen sich zwei verschiedene Ansätze beobachten, der Lage Herr zu werden: Einerseits ergreifen Nationalstaaten Maßnahmen, um ihre Bevölkerung vor Schaden zu bewahren, andererseits stehen sie hier vor Problemen, die sie jeweils allein nicht mehr lösen können.
Im Zuge der Corona-Pandemie lässt sich beobachten, dass beide Mechanismen gleichzeitig greifen, jedoch zeitlich versetzt: In der frühen Phase des Ausbruchs in Europa wurden Grenzen ohne Absprachen geschlossen, Als Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am 16.03.20 in einer Bundespressekonferenz die Maßnahmen zum herrschenden Kontaktverbot erläuterte und im Anschluss gefragt wurde, ob „wir überhaupt zu einem passfreien Schengenraum zurückkommen“, antwortete sie mit der vorsichtigen Einschätzung „das hoffe ich“. Deutschland verhängte einen Exportstopp für wichtige medizinische Güter, sogar in die europäischen Länder, in denen der Ausbruchsverlauf schon weiter fortgeschritten war. Zwischen den USA und China entwickelte sich schnell ein Informationskrieg, das jeweils andere Land zum Ursprung der Krankheit zu erklären.
Mehr zum Konflikt zwischen den Europäischen Nationen und der EU-Kommission.
Verzögerte internationale Zusammenarbeit
Erst nach und fand die Vernetzung der nationalen Staats- und Regierungschefs auf trans- und internationaler Ebene statt. So vereinbarten sie im Rahmen der G20 am 26.03 einen weltweiten Investitionsrahmen in Höhe von über 4,5 Billionen Euro. Auf der supranationalen Ebene ist besonders die EU bei der Bewältigung der Coronakrise aktiv: Zur Bekämpfung der weltweiten Corona-Pandemie wird die EU ihre Partner in der ganzen Welt mit Finanzhilfen von mehr als 15,6 Milliarden Euro unterstützen, um humanitäre Bedürfnisse zu decken, hygienische Verhältnisse zu verbessern und das Gesundheitswesen insgesamt zu stärken. Im April werden die Europäische Kommission und der Europäische Investitionsfonds 8 Milliarden Euro aus dem Europäischen Fonds für strategische Investitionen bereitstellen, um rund 100 000 von der Corona-Krise betroffenen Unternehmen zu helfen.
Dabei ist wichtig zu wissen, dass es rechtliche Beschränkungen für das Handeln der EU-Kommission in der Krise gibt, denn die Europäische Kommission hat im Bereich Gesundheit nur beschränkte Kompetenzen. Der öffentliche Gesundheitsschutz fällt nach Art. 5 und 6 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) in den Bereich der geteilten Zuständigkeiten und der Maßnahmen zur Koordination und Unterstützung, in dem das Subsidiaritätsprinzip (Art. 5 Abs. 3 EUV) gilt. Das bedeutet, dass die EU nur dann und insoweit tätig werden soll, wie eine Maßnahme wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser durch ein Tätigwerden seitens der Union verwirklicht werden kann. Vom Grundsatz her ist also jedes Land für die Organisation und Finanzierung seines Gesundheitswesens selbst zuständig und die EU darf nur unterstützend tätig werden.
Ein ähnliches Bild der verzögerten Zusammenarbeit zeigt sich auf der wissenschaftlichen Ebene. Obwohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) schon früh Informationen und Daten zum Coronavirus bereitstellte, gelang es erst den nationalen Gesundheitsämtern und Forschungsinstituten, lebenswichtige Informationen an die Bevölkerung zu tragen. Zu einem Konflikt zwischen Deutschland bzw. der EU und den USA kam es, als die Vereinigten Staaten angeblich planten, ein deutsches mittelständisches Unternehmen aufzukaufen, welches an einem Heilmittel forschte, um dieses exklusiv dem amerikanischen Markt zugänglich zu machen.
Mehr zum Thema internationale Gesundheitspolitik beim Auswärtigen Amt.
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Totgesagte leben länger, oder: Ist der Nationalstaat noch zeitgemäß?
Das hier zu Grunde liegende Dilemma besteht letztlich in der Frage, ob der Nationalstaat noch geeignet ist, auf die Probleme einer globalisierten Welt angemessen zu reagieren, ob weltweite Probleme ihn überfordern oder ob er vielleicht sogar gerade in Krisenzeiten die beste Regelungsebene bleibt.
Einerseits verfügen Nationalstaaten in der Regel über lang erprobte Ketten der Legitimation und Repräsentation. Das bedeutet, dass Maßnahmen, die auf nationaler Ebene angeordnet werden, durch die Bevölkerung tendenziell eher akzeptiert werden, da Entscheidungsträger unmittelbarer durch die Wählerinnen und Wähler akzeptiert werden. Der Aufbau sowie der Ablauf des demokratischen Miteinanders sind historisch im Nationalstaat gewachsen, sodass unterschiedliche politische Kulturen Demokratie von Land zu Land anders leben. Darüber hinaus lässt sich gerade in Krisenzeiten beobachten, dass viele Menschen Solidarität mit ihren Mitmenschen vor allem im nationalen Rahmen denken. Ein Zusammengehörigkeitsgefühl über die Landesgrenzen hinweg wird nicht selten mit Verweis auf die Nöte der „eigenen“ Gemeinschaft abgelehnt. Der Nationalstaat schafft also auch eine Identität, die das Durcheinander verschiedener Interessen übersteigt und Solidarität ermöglicht, welche jedoch nur bis zur jeweiligen Grenze reicht.
Dagegen ließe sich jedoch einwenden, dass der Nationalstaat zwar ein Meilenstein des demokratischen Miteinanders darstellt, dass dies aber keinesfalls den Endpunkt der Entwicklungsgeschichte darstellen muss. Gerade in der Finanzkrise seit dem Jahr 2008 zeigte sich, dass bei ausbleibender Kooperation zwischen den Nationalstaaten nicht selten eine Konkurrenz eintreten kann, die dafür sorgt, dass international organisierte Privatinteressen die Staaten gegeneinander ausspielen können. Erst der Zusammenschluss auf europäischer Ebene ermöglichte es, den Krisenverlauf unter Kontrolle zu bringen, was aber gleichzeitig auch mehr Zeit erforderte, bis die europäischen Staaten eine gemeinsame Linie fanden.
Legitimation und Solidarität: Eine Gratwanderung zu Zeiten der Pandemie
Ähnlich gestaltet sich diese Schwierigkeit bei einer Pandemie: Da das Virus keine Grenzen oder Nationen kennt, bedarf es radikaler politischer Maßnahmen, um die Infektionsraten zu senken. Dafür benötigen Entscheidungsträger den Zuspruch der breiten Bevölkerung, welcher sich auf nationaler Ebene eher einstellt, als wenn die Maßnahmen beispielsweise von der WHO verordnet würden. Andererseits gehen durch fehlende Kooperation sogenannte „Synergieeffekte“ verloren, also der Mehrwehrt, der dadurch entsteht, dass Informationen und Ressourcen so ausgetauscht werden, dass überall der geringste Mangel sowie die höchste Effizienz vorherrscht, sodass der Tod von Menschen an einem Ort verhindert werden kann, wenn an anderer Stelle notwendige Materialien bereitstünden.
Weiterführende Literatur:
- Balibar, Étienne: Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Bonn, 2005 (erhältlich bei der Bundeszentrale für politische Bildung).
- Bröning, Michael: Lob der Nation. Warum wir den Nationalstaat nicht den Rechtspopulisten überlassen dürfen. Bonn, 2019 (erhältlich bei der Bundeszentrale für politische Bildung).
- Lepsius, Rainer: Der europäische Nationalstaat. Erbe und Zukunft. Wiesbaden, 2012.
- Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaats. München, 2019.