
Die Coronakrise verschärft die soziale Ungleichheit
Die Coronakrise verschärft die soziale Ungleichheit
Was ist soziale Ungleichheit?
Von sozialer Ungleichheit spricht man in den Sozialwissenschaften, wenn eine Gruppe weniger Möglichkeiten der Teilhabe an sozialen Gütern oder sozialen Positionen hat, als eine andere. Oder etwas einfacher: Wenn eine Gruppe von Menschen aufgrund ihrer Stellung dauerhaft über bessere Lebensbedingungen verfügt als eine andere – es ihnen also „besser geht“. Die Ungleichheit erstreckt sich dabei auf viele Dimensionen. Sowohl der Zugang zu Macht, Wohlstand, Prestige und Bildung gehören dazu, aber auch Gesundheit, die Arbeits-, Wohn- und Freizeitbedingungen des Einzelnen oder der Gruppe. Was in diesen Bereichen als „besser“ gilt hängt auch von den jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäben ab, die an ein „gutes Leben“ geknüpft werden. Oftmals wir mit „sozialer Ungleichheit“ eine Vorstellung von Ungerechtigkeit verbunden. Der sozialwissenschaftliche Begriff als solches lässt aber eigentlich offen, ob z.B. Wohlstandsunterschiede als „gerecht“ oder „ungerecht“ zu beurteilen sind. Zur näheren Betrachtung sozialer Ungleichheit muss zwischen Verteilungs- und Chancengleichheit unterschieden werden.
Unter Verteilungsgleichheit versteht man die ungleiche Verteilung von Ressourcen (z.B. Einkommen, Vermögen) oder Lebensbedingungen in der Gesamtbevölkerung. Chancengleichheit wiederum nimmt die ungleichen Möglichkeiten einzelner Gruppen in den Blick. Ein Beispiel dafür wären etwa Hürden für Frauen höhere Einkommen zu erzielen. Die Unterscheidung zwischen Verteilungs- und Chancengleichheit ist wichtig, da sie sich unabhängig voneinander entwickeln. Chancenungleichheiten beobachtet man z.B. zwischen Geschlechtern, ethnischen Gruppen, Altersgruppen, Berufsgruppen, Bildungsgruppen oder zwischen Familien und kinderlosen Haushalten. Während Merkmale wie Bildungsgrade, Berufe und Lebensformen mehr oder weniger veränderlich sind, bleiben insbesondere Chancenungleichheiten aufgrund von unveränderlichen Merkmalen wie Alter oder ethnischer Zugehörigkeit Dauerbrenner gesellschaftlicher Debatten.
Soziale Ungleichheit in Deutschland
Wie sieht die Realität dazu in Deutschland aus? Hinsichtlich der Verteilungsgleichheit bestimmt in Deutschland seit Jahrzehnten ein Thema die öffentliche Diskussion: die Verteilung der Einkommen und ihre Entwicklung - die „Einkommensschere“, wie sie auch oft genannt wird. Der Grund dafür ist, dass in Deutschland die Einkommensungleichheit seit vielen Jahren zunimmt. Im vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung ermittelten Sozio-oekonomischen Panel (SEOP) werden private Haushalte im jährlichen Rhythmus seit 1984 befragt. Das Ergebnis ist der sogenannte Gini-Koeffizient, ein Gradmesser für die Verteilungsgerechtigkeit. Auf dessen Basis kann man sehr gut erkennen, dass mit Ausnahme einer kleinen Abschwächung im Jahr 2005 die Einkommensungleichheit deutlich steigt und die Einkommen 2019 so ungleich verteilt waren wie nie zuvor:
In den dazu angestellten Analysen (vgl. WSI-Verteilungsbericht, Oktober 2019) kann man sehen, dass für diese Entwicklung vor allem Entwicklungen an den „Rändern“ der Verteilung verantwortlich sind. Soll heißen: Haushalte am oberen Ende und Spitzenverdiener profitieren von ihren Kapitaleinkünften und Haushalten am unteren Ende der Einkommen frisst die Inflation Einkommenszuwächse auf. Das macht die Einkommensungleichheit zu einer der am intensivsten geführten wirtschafts- und sozialpolitischen Diskussionen in unserem Land.
Soziale Ungleichheit durch den Corona-Virus?
Maßnahmen und Befürchtungen
Die Ausbreitung des Coronavirus hat in wenigen Wochen das Leben fast aller Menschen auf den Kopf gestellt. Die offensichtlichsten sozialen Folgen ergeben sich aus dem sogenannten „umfassenden Kontaktverbot“, auf das sich Bund und Länder (mit Ausnahme von Bayern) am 22. März geeinigt haben. In Sachsen gelten darüber hinaus die Ausgangsbeschränkungen der Sächsische Corona-Schutz-Verordnung (SächsCoronaSchVO), die „das Verlassen der häuslichen Unterkunft ohne triftigen Grund“ untersagt. Diese Maßnahmen gelten im Fall von Sachsen vorerst bis zum 20. April.
Seit Beginn der Krise gibt es Befürchtungen, dass die Krise einige Gruppen besonders hart treffen könnte.
Zunächst muss man festhalten, dass Deutschland im Vergleich zu vielen Ländern der Welt eine hohe soziale Absicherung hat. Zum Beispiel können durch eine Sonderregelung derzeit niedergelassene Ärzte bei leichten Erkrankungen für einen Zeitraum bis zu 14 Tagen telefonisch krankschreiben. In den USA gibt es auch nach jahrzehntelangen Debatten nicht einmal Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Entlassungen sind in den USA sehr viel schneller möglich und so etwas wie Kurzarbeitergeld gab es bis zum vor kurzem verabschiedeten Konjunkturpaket gar nicht. Unser häufig kritisiertes Gesundheitssystem und der Sozialstaat zeigen sich derzeit als außerordentlich leistungsfähig. Besonders die im Vergleich zu vielen Ländern wesentlich geringere Sterblichkeitsrate in Deutschland bringt unserem Gesundheitssystem fast täglich neues Lob ein. Mit dem Sozialschutz-Paket hat die Bundesregierung den Zugang zu sozialer Sicherung in Deutschland vielen Bereichen noch einmal vereinfacht. Die Maßnahmen umfassen z.B. vereinfachte Zugänge zur Grundsicherung, existenzsichernden Maßnahmen und Kinderzuschlag, Entschädigung bei Kinderbetreuung, Zuschüsse für soziale Dienste, Zuverdienst bei Kurzarbeit für systemrelevante Arbeit und ausgeweitete Höchstdauer für geringfügige Beschäftigung.
Trotzdem stellt die Corona-Pandemie etliche soziale Herausforderungen für Deutschland bereit.
So werden zum Beispiel die Wohnverhältnisse zu einem wichtigen Faktor in der Bewältigung der oben genannten Ausgangsbeschränkungen. Geringverdiener*innen wohnen meist in kleinen Wohnungen in denen es wenige oder keine Rückzugsorte gibt. Die Landeskriminalämter in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt haben deshalb Ende März vor einer möglichen Zunahme häuslicher Gewalt gewarnt. In Spanien und Frankreich gibt es sogar eine Initiative um Codewörter, mit denen Opfer häuslicher Gewalt in Apotheken unbemerkt um Hilfe bitten können. Bisher gibt es aber keine aussagekräftigen Statistiken, die diese Befürchtungen untermauern. Weder in Sachsen, noch niedersächsische Landeskriminalamt, Brandenburg oder dem Saarland konnten bislang gesicherte Zuwächse von den Landeskriminalämtern verzeichnet werden. Das Landeskriminalamt in Sachsen räumt ein, dass potenzielle Opfer aber derzeit auch deutlich schlechtere Möglichkeiten haben zur Polizei zu gehen. Eine konkrete Beurteilung könne erst in einigen Monaten erfolgen. Am 7. April hat das sächsische Kabinett zusätzliche Mittel in Höhe von 540.000€ für den Schutz von Frauen, Kindern und Männern vor häuslicher Gewalt bereitgestellt.
Auch auf die Bewältigung der Schul- und Kitaschließungen könnten die Einkommens- und Wohnverhältnisse einen Einfluss haben. Da Schulen geschlossen sind wird vielerorts auf internetbasierte E-Learning Plattformen umgestiegen. Die Nutzung solcher Plattformen im sogenannten Homeschooling setzt z.B. einen eigenen Schreibtisch, einen Computer und einen Internetzugang voraus. Kinder aus einkommensschwachen Haushalten ohne Computer könnten hier benachteiligt sein und hätten schlechtere Lernbedingungen. Um dies zu vermeiden improvisieren viele Lehrer*innen, indem sie z.B. Hausaufgaben per Foto auf Whatsapp entgegennehmen oder Lernpakete auf Papier verschicken. Das Ausweichen auf solche Wege könnte helfen, da beinahe 100% der deutschen Bevölkerung über Smartphones verfügen.
Laut Studien haben mehr als ein Viertel aller Deutschen keine Ersparnisse weil am Ende des Monats nichts übrig bleibt. Deutschland hat damit den zweithöchsten Anteil von Nichtsparern in 13 europäischen Ländern und wird nur noch von Rumänien übertroffen. Für viele, die nun von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit betroffen sind könnten fehlende Rücklagen zum Problem werden.
Für Hartz IV-Empfänger gab es im Sozialschutz-Paket keine Änderungen. Sie haben im Rahmen des sogenannten Bildungs- und Teilhabepaketes (Starke-Familien-Gesetz) eigentlich Anspruch auf ein kostenloses Mittagessen für ihre Kinder in der Schule. Durch die geschlossenen Schulen entfallen derzeit diese Mittagessen, was zusätzliche Mehrkosten verursacht. Erschwert wird die Situation durch die schwieriger werdende Versorgung in Discountern und immer mehr Tafeln, die schließen müssen.
Auch auf dem Arbeitsmarkt werden Chancenungleichheiten sichtbar. Es gibt diejenigen, die nicht mehr normal arbeiten können und diejenigen, die jetzt erst recht arbeiten müssen (sogenannte kritische Infrastrukturen). Unter denen, die nicht mehr wie bisher weiterarbeiten können gibt es eine große Bandbreite. Einige können ihre Arbeit ins Home Office verlagern, andere müssen Kurzarbeitergeld beantragen. Viele Existenzen, auch aus dem selbstständigen Bereich machen sich verschiedenste Sorgen. Einer Umfrage des Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE zufolge spiele bei den wirtschaftlichen Folgen insbesondere eine Rolle, ob man selbstständig oder angestellt sei. So hätten bisher nur 17% der Haushalte Einkommenseinbußen wegen der Corona-Krise hinzunehmen aber 41% der Selbstständigen.
Quellen:
Hradil, Stefan, 2001: Soziale Ungleichheit in Deutschland, B. Aufl., Opladen: Leske + Budrich
Geißler, Rainer, 2014: Die Sozialstruktur Deutschlands, VS Verlag für Sozialwissenschaften
https://www.coronavirus.sachsen.de/download/Fassung-RV-SaechsCoronaSchVO_31032020.pdf
https://taz.de/Sozialabbau-in-Deutschland/!5676509/
https://www.nytimes.com/2020/04/04/world/europe/germany-coronavirus-death-rate.html
https://www.boeckler.de/pdf/p_wsi_report_53_2019.pdf
https://www.ing.de/ueber-uns/presse/pressemitteilungen/deutsche-ohne-ersparnisse/
https://www.mdr.de/thueringen/coronakrise-zunahme-haeusliche-gewalt-drogen-einbruch100.html
https://www.eurotopics.net/de/237691/corona-und-die-soziale-ungleichheit
https://www.zeit.de/wirtschaft/2020-03/soziale-ungleichheit-coronavirus-pandemie-versorgung-covid-19
https://www.fr.de/frankfurt/soziale-ungleichheit-kein-platz-rueckzug-13642947.html
https://www.gesetze-im-internet.de/bsi-kritisv/BSI-KritisV.pdfb