
Gleichwertige Lebensverhaltnisse in Stadt und Land sind nicht mehr bezahlbar.
1. Was sind überhaupt „gleichwertige Lebensverhältnisse“?
Die Herstellung von gleichwertigen Lebensverhältnissen ist eine zentrale Leitidee für die Entwicklung von Bund und Ländern und zielt insbesondere auf die Daseinsvorsorge, Einkommen und Erwerbsmöglichkeiten ab. Sie ist erklärtes Handlungsziel von Bundesregierungen und befand sich in unterschiedlicher Ausprägung und Betonung spätestens seit der Wiedervereinigung in allen Koalitionsverträgen (z.B. 2013 auf S. 18, 2009 auf S. 50, 2005 auf S. 189, 2002 auf S. 8). Auch im Entwurf des Koalitionsvertrages der möglichen neuen Großen Koalition von SPD und CDU/CSU von 2018 findet er sich auf S. 4:
„Unser Ziel sind gleichwertige Lebensverhältnisse im urbanen und ländlichen Raum in ganz Deutschland.“
Bei der Definition von „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ stößt man sehr schnell auf das sogenannte Raumordnungsrecht. Darin wird grob gesagt geregelt, wie größere Gebietseinheiten (z.B. Regionen oder Länder) dauerhaft als Lebensraum genutzt werden können. Die konkreteste rechtliche Ausformulierung des Begriffes der „gleichwertigen Lebensverhältnisse“ findet sich im sogenannten Raumordnungsgesetz (ROG) im § 2 Abs. 2 Nr. 1 (Link). Dort findet man die folgenden Punkte:
- Im Gesamtraum der Bundesrepublik Deutschland sind ausgeglichene, soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Verhältnisse anzustreben.
- Daseinsvorsoge, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Innovation, Entwicklungspotenzialen und Ressourcen sind zu sichern.
- Ballungsräume, ländliche Räume, strukturschwache und strukturstarke Regionen sind dabei gleichermaßen zu beachten.
- Demografischen, wirtschaftlichen, sozialen sowie anderen strukturverändernden Herausforderungen ist Rechnung zu tragen.
Gleichwertige Lebensverhältnisse beziehen sich demnach gleichermaßen auf soziale, infrastrukturelle, wirtschaftliche, ökologische und kulturelle Bereiche. Der Staat muss hier einen Ausgleich anstreben und dabei aktuelle Herausforderungen beachten.
2. Gleichwertige Lebensverhältnisse als Staatsauftrag
Die Schaffung einer Raumordnung ist eng verknüpft mit dem Grundgesetz und der Idee des Sozialstaates. Unter einem Sozialstaat versteht man einen Staat, dessen Handeln auf soziale Sicherheit und Gerechtigkeit ausgerichtet ist, um die Teilhabe aller seiner Bürger an der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung zu gewährleisten. Ein wesentliche Faktor davon sind eben auch gleichwertige Lebensverhältnisse.
Entsprechend bezieht sich das Grundgesetz an mehreren Stellen explizit auf diese Leitidee. Die im Art. 20 GG als Sozialstaat definierte Bundesrepublik Deutschland weist dem Bund dafür seit der Verfassungsreform von 1994 im Art. 72 GG ein Gesetzgebungsrecht zur „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse“ zu.
Der Staat muss also einen Ausgleich anstreben. Diese vorsichtige Formulierung trägt der Tatsache Rechnung, dass der Politik bei der Gestaltung dieses Ausgleichs auch Grenzen gesetzt sind. „Gleichwertig“ kann nicht gleichbedeutend mit „gleich“ verstanden werden. So wird selbst unter idealen Bedingungen klar sein, dass z.B. ein U-Bahn-Anschluss auf dem Dorf nicht realistisch für die Entwicklung ländlicher Räume sein kann. Es geht insgesamt also weniger um die Abschaffung aller Unterschiede zwischen Stadt und Land, sondern um eine Gleichstellung. Dies bedeutet, dass sich Unterschiede bis zu einem gewissen Grad zwar nicht vermeiden lassen, aber z.B. der örtliche Arzt durch einen in der Versorgungsqualität vergleichbaren mobilen Arzt ersetzt wird.
Der Länderfinanzausgleich
Über das System des Länderfinanzausgleichs, das im Art. 106 und Art. 107 ff. GG festgeschrieben ist, soll garantiert werden, dass auch finanzschwache Bundesländer ihren Bürgern die dafür notwendige Infrastruktur bereitstellen können. Das System dieses solidarischen Ausgleichs war in der Vergangenheit immer öfter Zankapfel zwischen den Bundesländern. So wurde lange zwischen sogenannten "Geberländern" (2016 zuletzt Baden-Württemberg, Bayern, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Hessen) und "Nehmerländern" (alle anderen Bundesländer) unterschieden und insbesondere der Freistaat Bayern, aus dem mehr als die Hälfte aller Gelder für den Länderfinanzausgleich kommt, fühlte sich als Geber überstrapaziert. Interessanterweise war Bayern bis Ende der 1980er Jahre selber ein sogenanntes Nehmerland. Im Sommer 2017 wurde beschlossen das System ab 2020 neu zu ordnen und dem Bund im Finanzausgleich mehr Kompetenzen einzuräumen.
Die öffentliche Daseinsvorsorge
Die spannende Frage ist, welche Spielräume hat der Staat bei der Auslegung dieser Aufgabe? Aus der Perspektive des Grundgesetzes müssen Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben garantiert werden. Eine solche Grundversorgung umfasst die Bereitstellung aller notwendigen Güter und Dienstleistungen zu sozial verträglichen Preisen. Eine solche öffentliche Daseinsvorsorge ist staatliche Aufgabe, weswegen diese größtenteils von kommunalwirtschaftlichen Betrieben wahrgenommen werden.
Welche Güter und Leistungen als existenziell anzusehen sind, ist durch die Politik zu ermitteln und über die Zeit hinweg anzupassen. Insbesondere der Bereich technischer Dienstleistungen unterliegt ständigen Veränderungen und durch Innovationen (z.B. in Informations- und Kommunikationstechnologie).
Zum allgemeinen Kanon der Grundversorgung zählen heute z.B. die folgenden Aufgabenfelder:
I. Technische Dienstleistungen
- Verkehrsinfrastruktur
- Öffentlicher Nahverkehr
- Kommunikationsdienstleistungen
- Energieversorgung
- Wasserwirtschaft
- Ver-/Entsorgung und Abfallwirtschaft
- Hochwasserschutz
- Katastrophenschutz
- Feuerwehr
- Rettungswesen
- Wohnungswirtschaft und sozialer Wohnungsbau
II. Soziale Dienstleistungen
- Kulturelle Versorgung
- Bildung und Schule
- Kinderbetreuung
- Gesundheitswesen
- Altenpflege
- Öffentliche Sicherheit
- Sportstätten
- Friedhöfe
III. Ökologische Dienstleistungen
- Nahrungsmittelversorgung
- Umweltschutz: Boden, Wasser, Luft
- Biodiversität
- Freizeitmöglichkeiten
3. Anspruch vs. Wirklichkeit
Indikatoren für gleichwertige Lebensverhältnisse
Um zu überprüfen welche regionalen Unterschiede in Deutschland in Bezug auf die Lebensverhältnisse vorherrschen kann man aus den Aufgabenfeldern der Daseinsvorsorge die z.B. folgenden Indikatoren ableiten:
- Wirtschaftskraft
- Arbeitslosigkeit
- Einkommen
- Demografie und Bevölkerungsentwicklung
- Abwanderung
- Durchschnittsalter
- Tourismusaufkommen
- Erreichbarkeit von Verkehrsinfrastruktur
- Kaufkraft
- Zugang zu gesundheitlicher Versorgung
- Erreichbarkeit von Einzelhandel und Supermärkten
- Zugang zu Breitband-Internet
- Umweltbelastungen wie Feinstaubkonzentration
- Zugang zu Museen, Kinos, Theatern, Bibliotheken
In allen genannten Bereichen gibt es starke regionale Unterschiede. Vor allem im wirtschaftlichen, sozialen und infrastrukturellen Bereich gibt es in Deutschland teils deutliche Verwerfungen.
Trotz erfreulicher Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt in den letzten Jahren bestehen im innerdeutschen Vergleich, z.B. in Bezug auf die subjektive Lebenszufriedenheit, die Kaufkraft, die Armutsgefährdung oder das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner, auf regionaler Ebene sehr deutliche Unterschiede (Zahlen siehe Galerie unten). Insbesondere der Ost-West-Vergleich ist weiterhin auffällig. Gründe dafür sind zum Teil in der unterschiedlichen Wirtschaftsstruktur zu suchen. Im Osten fehlen die großen Unternehmen und Konzerne, die z.B. in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg oder Bayern zu finden sind. Auch die demografische Entwicklung in vielen ländlichen Regionen wirkt sich nachteilig auf die wirtschaftliche Entwicklung aus. Die Anpassung der Versorgung zur Sicherung der gleichwertigen Lebensverhältnisse muss hier den Spagat zwischen guter Versorgung und dauerhafter Finanzierbarkeit schaffen. Dies ist nach Ansicht vieler Experten auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt von entscheidender Bedeutung.